Dankgebet aus der "Harmonice Mundi"
Groß ist unser Herr und groß seine Kraft und seiner Weisheit ist keine Zahl.
Lobpreiset ihn, ihr Himmel, lobpreiset ihn, Sonne, Mond und Planeten,
welchen Sinn ihr auch habt zu erkennen, welche Zunge zu rühmen euren Schöpfer.
Lobpreiset ihn, ihr himmlischen Harmonien, lobpreiset ihn, ihr alle,
die ihr Zeugen der nun entdeckten Harmonien seid!
Lobpreise auch du, meine Seele, den Herrn, deinen Schöpfer, solange ich sein werde.
Denn aus ihm und durch ihn und in ihm ist alles!
Das, was mit den Sinnen erfasst, wie das, was mit dem Geist erkannt wird.
Das, was noch gänzlich unbekannt ist, wie das was wir wissen
und was nur einen Bruchteil von jenem ausmacht,
denn mehr noch liegt darüber hinaus.
Ihm sei Lob, Ehre und Ruhm in alle Ewigkeit.
Amen.
Harmonice Mundi", Buch 1, S. 34
Die in den Kreis einbeschriebenen Vielecke rufen laut Kepler dann Harmonieempfinden hervor, wenn die aus dem Kreis von zwei Ecken ausgeschnittenen Sehnen sich zueinander oder zum ganzen Kreis in einem der obenangegebenen harmonischen Verhältnisse verhalten.
Seine harmonischen Spekulationen führen Kepler zu wichtigen Erkenntnissen. Zuerst gelingt ihm der geometrische Nachweis zweier bisher unbekannter Sternpolyeder. Seine wichtigste Entdeckung aber ist das
Dritte Keplersche Gesetz:
Die Quadrate der Umlaufszeiten zweier Planeten verhalten sich wie die dritten Potenzen ihrer mittleren Abstände.
Bereits in seinem Erstlingswerk sucht Kepler nach einem Verhältnis zwischen den Umlaufszeiten und den mittleren Abständen der Planeten von der Sonne. Die in seiner "Harmonice Mundi" gefundene Beziehung hat einen großen Vorteil: Vergleicht man die Potenzen, verhält sich der Quotient der Umlaufszeiten zum Quotienten der mittleren Abstände wie 2:3. Es handelt sich also nicht um irgendeine Proportion, sondern um das Teilungsverhältnis der Quinte. Da das Gesetz vollkommen mit den Beobachtungsdaten übereinstimmt, scheint es Keplers harmonische Spekulationen mit den Vielecken zu bestätigen.
"Des Weltbaus Harmonie Dein tiefer Geist ergründet ..."
Kepler ist als Anhänger der neuplatonischen Philosophie überzeugt, dass Gott die Welt nach harmonischen Prinzipien erschaffen hat, die der Mensch durch Anwendung geometrischer Regeln nachvollziehen kann. Keplers harmonische Spekulationen beginnen 1596 im "Mysterium Cosmographicum" und gipfeln 1619 in der "Harmonice Mundi", die er als Krönung seiner Forschungen sieht.
Kepler erklärt jegliches Harmonieempfinden durch die Erregung von Urbildern in der menschlichen Seele. Diese Urbilder sollen gleich den Harmonien aus Zahlenverhältnissen aufgebaut sein, die durch Einbeschreibung regelmäßiger Vielecke in einen Kreis zustande kommen. Kepler glaubt, dass bei der Teilung einer Saite höchstens sieben Wohlklänge entstehen können. Deshalb wählt er sieben mit Zirkel und Lineal konstruierbare Vielecke aus, die er als Bausteine aller musikalischen, astrologischen und kosmischen Harmonien ansieht.